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Interview mit Historiker Dr. Karl Gattinger

MAGAZIN

1873 eröffnete der Drechslermeister Josef Leitl ein Geschäft im Alten Rathaus. Es war der direkte Vorläufer des jetzigen Holz-Leute Ladens in der Metzgerzeile.

GG
Herr Dr. Gattinger, Sie sind Experte für Münchner Stadtgeschichte, können Sie uns erzählen wie die Gegend um Leitls Laden vor 150 Jahren ausgesehen hat?

Dr. Gattinger
Es war eine Zeit, in der sich München extrem stark veränderte. Überall in der Altstadt wurden Bürgerhäuser abgerissen und neue Gebäude errichtet. Gleich nebenan entstand das Neue Rathaus im damals modernen Stil der Neugotik. Über Jahrzehnte eine Großbaustelle im Herzen der Stadt. Gegenüber des Geschäfts von Leitl befindet sich die Heilig- Geist-Kirche. Sie hatte damals einen Vorbau von monumentalen Ausmaßen. Dieser sogenannte Weiberbau war eines der letzten großen Gebäude, die abgetragen wurden, um Freiflächen für den wachsenden Viktualienmarkt zu schaffen. Die Sparkassenstrasse direkt hinter dem Laden war 1873 übrigens noch ein offener Stadtbach.

GG
Ein regelrechter Bauboom, also. Es ging wohl eher nicht sehr beschaulich zu in der Altstadt?

Dr. Gattinger
Einerseits war München noch sehr ländlich geprägt, und Gänse, Kühe, Schweine und andere Viecher waren viel präsenter als heute. Andererseits setzte das ein, was man schon damals „City Bildung“ nannte. Damit ist gemeint, dass die Altstadt an Einwohnern verlor und Geschäftsleute in die Stadt drängten. Anstelle der Palais der Adeligen entstanden Bankenpaläste. Und der geldige Münchner Bürger wohnte nicht mehr in der Altstadt, sondern in Bogenhausen. Es war also eine echte Umbruchsphase. 1876 kam dann übrigens auch die erste Trambahn, allerdings noch von Pferden gezogen. Und die Industrialisierung mit den Dampfmaschinen hatte auch längst begonnen.

GG
Leitl verkaufte Teller, Schalen, Bretter, Löffel, Leitern und Brettspiele. Wie wird seine Kundschaft ausgesehen haben?

Dr. Gattinger
Vermutlich haben sich schon einige Touristen in den Laden verirrt. Davon gab es in München immerhin bereits über 150.000 im Jahr. Ansonsten werden es wohl eher einfache Leute gewesen sein. Leitls Angebot bestand ja aus Gebrauchsgegenständen. Die feine Gesellschaft ist sowieso nicht selber einkaufen gegangen, die haben ihre Dienstmägde auf den Markt geschickt.

Historie von Holz-Leute mit Historiker und altem Bild vom Viktualienmarkt

GG
Muss ich mir Männer in Lederhosen und Frauen im Dirndl vorstellen oder wie ist man damals zum Shoppen gegangen?

Dr. Gattinger
Ganz sicher nicht. Zum Einkaufen hat man keine Tracht angezogen. Eher das übliche Handwerker-Gewand. Der Hut war wichtig und selbstverständlich. Außerdem gab es damals noch etliche Kasernen im Zentrum der Stadt, und die Soldaten mussten auch in ihrer Freizeit Uniform tragen. Es gibt ein sehr schönes Zitat von einem englischen Privatgelehrten, der damals schrieb: „Dieses allgegenwärtige Militär in München hängt einem wirklich zum Halse heraus“.

GG
Im letzte Drittel des 19. Jahrhunderts verzeichnete München einen starken Einwohnerzuwachs. Sind die Zahlen vergleichbar mit der heutigen Zuwanderung?

Dr. Gattinger
Die Zahlen waren erheblich höher als heute. Und der gebürtige Münchner war damals wie heute eher eine Seltenheit. Zehntausende zogen aus dem Umland in die Stadt. Die Stadt wuchs und wurde zunehmend an die Welt angebunden. Haidhausen und das Westend entstanden. Der Ostbahnhof war gerade eröffnet worden. Und die Brauereien und andere Firmen, die viel Platz brauchten, zogen aus der Altstadt weg. Die Handschuh- Manufaktur Roeckl und der Senffabrikant Develey beispielsweise.

GG
Es war also ein großes Kommen und Gehen. Was bedeutete das für die Münchner Geschäftsleute?

Dr. Gattinger
Die Gewerbefreiheit war in Bayern gerade erst eingeführt worden und viele neue Betriebe und Läden konnten gegründet werden. So wie der von Josef Leitl. Das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts war übrigens auch die Zeit, in der so etwas wie eine Shopping- Kultur entstand. Damals wurden in ganz viele Häuser des Zentrums große Schaufenster eingebaut. Diese Verglasung hat die Optik des Zentrums grundlegend verändert. Außerdem wurden ganz viele Häuser um mehrere Etagen aufgestockt. Ein Phänomen, das man heute wieder allerortens in München beobachten kann.

GG
Prägende Jahre demnach.

Dr. Gattinger
Ja, und noch ein anderes Phänomen entstand übrigens, das mit dem Material Holz in direkter Verbindung steht: die Gemütlichkeit. 1879 erbaute Gabriel von Seidl eine neuartige Bier-Gaststätte und brachte damit einen riesigen Trend ins Rollen. Mit dem Deutschen Haus am Lenbachplatz hat Seidl die Innenarchitektur der gemütlichen Wirtschaft überhaupt erst erfunden. Butzenscheiben, Säulen, Vertäfelungen, Geschirr- und Besteckschränke. Letztere alles in schönem Holz. Das wurde dann ein Exportschlager, der von München aus seinen Siegeszug antrat. Davon profitierte sicher auch Josef Leitls Laden. Und die Verbindung von Holz und Gemütlichkeit dauert ja bis heute an.

Dr. Karl Gattinger:
Dr. Karl Gattinger, Jahrgang 1968, ist Landeshistoriker, Denkmalschützer und Autor von unter anderem „Genuss mit Geschichte. Einkehr in bayerischen Denkmälern. Gasthöfe, Wirtshäuser und Weinstuben“ und „Das alte München: Wandel als Konstante in der Münchner Altstadt“. Beide erschienen im Volk Verlag.

Interview:
Gero Günther
Historiker Karl Gattinger vor dem Bogen, unter dem 1873 der Münchner Drechslermeister Josef Leitl sein Geschäft eröffnete.